„Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.“ Mit diesem Zitat von Rainer Maria Rilke beginnt der neue Film von Hans Weingartner (DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI) und die nächsten zweieinhalb Stunden sollte man sich wirklich Zeit nehmen zur Liebe. Doch keine Sorge, ein Vorgefühl des Ewigen stellt sich beim Betrachten des Films dennoch nicht ein.
Jule hat gerade ihre letzte Prüfung vor Ende des Sommersemesters verbockt. Die Biologiestudentin ist mit ihren Gedanken auch gerade ganz woanders. Es gibt da etwas, was sie ihrem Freund Alex sagen muss. Sie trägt buchstäblich ein Geheimnis in sich. Doch Alex ist in Portugal, schreibt dort seine Doktorarbeit. Da Jule ihm die Botschaft nicht am Telefon überbringen will, entschließt sie sich kurzerhand, mit ihrem alten Wohnmobil, einem Mercedes Hymer 303, von Berlin nach Portugal zu fahren.
Politikstudent Jan hat am letzten Tag des Sommersemesters erfahren, dass er nicht für ein weiterführendes Stipendium ausgewählt wurde. Doch auch er kann sich darüber nicht allzu viele Gedanken machen, denn auch er möchte in den Südwesten Europas, nach Nordspanien, um dort seinen leiblichen Vater zu besuchen, den er noch nie gesehen hat. Doch seine Mitfahrgelegenheit lässt ihn an einer Raststätte an der Autobahn sitzen. Zufälligerweise hält auch Jule an dieser Raststätte und sie erklärt sich dazu bereit, Jan bis nach Köln mitzunehmen, wo er mit dem Zug weiterfahren will.
Beide kommen rege ins Gespräch und sind sich auf Anhieb sympathisch. Doch als das Gespräch auf Suizid kommt, blockt Jule ab. Jan vertritt die Meinung, dass Selbstmord ein sehr egoistischer Ausweg ist, weil es die Menschen in der Umgebung des Toten ebenfalls ins Unglück stürzt. Jule sieht das anders, da sich ihr Bruder, dem einst das Wohnmobil gehörte, ebenfalls umgebracht hat. Also schmeißt sie Jan an der nächsten Tankstelle wieder raus. Doch ihre Wege kreuzen sich natürlich wieder und Jule beschließt, Jan nicht nur nach Köln zu bringen, sondern mit ihm den ganzen Weg nach Spanien zu verbringen. Während der Fahrt kommen sich die beiden in leidenschaftlichen Gesprächen über Politik, die Natur des Menschen und die Biologie der Liebe näher.
Viel mehr passiert eigentlich nicht und das Ende des Films ist schon von Anfang an klar. Zweieinhalb Stunden lang zwei Menschen beim Reden zuzuschauen, klingt erst einmal nicht sonderlich spannend. Aber Hans Weingartner gelingt es, diesen Prozess des sich verliebens in tollen Momenten einzufangen. Hier geht es nicht um Liebe auf den ersten Blick. Es liegen hunderte Blicke und viele Momente zwischen der ersten Begegnung von Jule und Jan und den Gefühlen, die sie füreinander entwickeln. Dabei müssen sie auch feststellen, dass nicht immer alles so klar ist wie in der Theorie.
Beide haben Verlust und Schmerz erfahren und sich deshalb in einer Art Schutzkapsel eingeschlossen. Es fällt beiden schwer, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen und sie in ihren geschützten Bereich vordringen zu lassen. Sinnbildlich dafür ist auch das Wohnmobil, mit dem sie unterwegs sind. Es ist ebenfalls wie eine Art Schutzkapsel, in der die Zeit stehen zu bleiben scheint, während draußen die sommerlichen Landschaften am Fenster vorbei ziehen. Und selbst, wenn sie diesen Schutz vor der Außenwelt mal verlassen, sind sie an vielen Orten alleine. Nur selten erblickt man andere Menschen an den Stellen, an denen sich Jule und Jan aufhalten. Ihre Gespräche über die Natur des Menschen, ist es eher Konkurrenz oder Kooperation, oder über die Natur der Liebe und sexuellen Anziehung bergen viele kluge, philosophische Betrachtungen in sich. Gelegentlich rutscht das Niveau auf altbekannte Phrasen ab, was aber aufgrund des Alters der Protagonisten (beide sind 24 Jahre alt) noch vertretbar ist.
Ganz ohne kritische Aspekte kommt der Film natürlich auch nicht aus. Während Mala Emde als Jule im Verlaufe des Films richtig mit der Rolle verschmilzt, kommt Anton Spieker als Jan nicht so ganz in Fahrt. Sein Spiel wirkt manchmal zu bemüht und die Dialoge zu auswendig gelernt. Zudem mag es dem Zuschauer etwas seltsam vorkommen, dass eine Figur, die eigentlich ein halber Spanier ist, von einem typisch deutschen Schauspieler mit blonden Haaren und blauen Augen dargestellt wird.
Wenn man sich als Zuschauer auf den Fluß des Filmes und die beiden Hauptfiguren einlässt, vergehen die ersten zwei Drittel wie im Fluge. Ihre Diskussionen und philosophischen Betrachtungen sind interessant, während die langsam aufkeimende Zärtlichkeit tatsächlich aus dem Moment heraus zu entstehen scheint. Kurioserweise verliert der Film dann im letzten Drittel, als beide zusammenkommen, etwas von seinem Biss. Das langsame sich Annähern bis zum ersten Kuss wird ein wenig zu stark ausgewaltzt und auch von den vorher spritzigen Dialogen ist nicht mehr viel übrig. Von daher flacht der Film gegen Ende leider etwas ab.
Der Soundtrack des Films besteht zum größten Teil aus melancholischen Folk-Pop-Songs. Das passt zwar einerseits zu einem Roadmovie und den sonnendurchfluteten Bildern, andererseits wirken die Songs oftmals einfach nur über den Film gegossen. Egal, ob gerade etwas lustiges oder spannendes oder trauriges passiert ist, es erklingt ein melancholischer Folk-Pop-Song, der sich nun auch nicht so wirklich stark von den anderen zuvor unterscheidet. Lediglich in der kurzen Surf-Szene darf es auch mal was schnelleres sein. Eine Ausnahme mag da der Song „Hell Yeah“ von Ani DiFranco sein, wenn es da heißt:
Life is a B-Movie
It’s stupid and it’s strange
A directionless story
And the dialogue is lame
But in the he said she said
Sometimes there’s some poetry
Sicherlich eine augenzwinkernde Beschreibung des Films selbst.
Der Score stammt von Michael Regner. Auch er passt sich dem ruhigen Folk-Pop an und besteht zu weiten Teilen aus minimalistischen Klangflächen mit gezupfter Akustikgitarre. Mehr wäre sicherlich auch fehl am Platz gewesen, aber den einen oder anderen Folk-Pop-Song hätte man weglassen und dafür vielleicht ein weiteres Score-Stück verwenden können. Zumal der Folk-Pop nun auch nicht gerade das Musikgenre zu sein scheint, in welchem sich die Protagonisten unbedingt bewegen, was man an ihrer Kleidung sieht und in einem ihrer Gespräche erfährt. Das Soundtrack-Album zum Film ist nur digital erschienen.
Hans Weingartner nennt 303 den „Anti-Tinder-Film“. Hier wird ein Mensch nicht binnen Sekunden nach seinem Aussehen beurteilt und als „Gefällt mir“ oder „Gefällt mir nicht“ mit einer Wischbewegung in die jeweilige Schublade geschoben. Das Entstehen der Liebe ist hier ein langsamer Prozess und man könnte zu der Erkenntnis kommen, dass selbst unscheinbar und unwichtig scheinende Gespräche doch zu einem Ziel führen.
„Denk immer daran, dass das Wichtigste in einer Ehe nicht das Glück an sich, sondern die Stabilität ist.“ schreibt Gabriel García Márquez in seinem Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“. Und den Aufbau dieses Fundaments, auf dem eine partnerschaftliche Beziehung stehen kann, zeigt 303 in seinen knapp 150 Minuten Laufzeit, die uns aber keinesfalls wie eine Ewigkeit vorkommen.
Márquez schreibt in seinem Roman ebenfalls „Das einzige, das mich am Sterben stört, ist, dass dies nicht aus Liebe geschieht.“ Viele Dinge, die wir vermeintlich aus Liebe tun, geschehen eher aus Zuneigung oder Leidenschaft. Wahre Liebe kommt selten über Nacht und manchmal erkennen wir sie auch nicht sofort. Aber wenn wir sie erkennen, wird uns auch der Prozess klar, der uns bis zu diesem Punkt geführt hat. Und das fängt der Film auf wundervolle Weise ein.