„The poison enters into everything“ – „Treaty“ von Leonard Cohen

Quelle: annettgroh.de

Jeder dürfte wohl einen oder mehrere Songs haben, die ihm viel bedeuten. Sei es inhaltlich oder weil eine bestimmte Erinnerung damit verbunden ist. Ich finde es schön, wenn man solche Songs entdeckt, auch, wenn man gar nicht danach gesucht hat. In diesem Fall hat der Song also quasi mich entdeckt.

Leonard Cohen ist eine der Musik-Legenden, die uns letztes Jahr verlassen haben. Im Grunde war man darauf vorbereitet, wie es so schön heißt, jedes der letzten Cohen-Alben hätte auch tatsächlich das letzte Album sein können. „You Want It Darker“ erschien dann auch nur wenige Wochen, bevor Cohen den Weg alles Irdischen ging. Dass das Album überhaupt entstanden ist, dafür kann man Cohens Sohn Adam danken. Sein Vater war gesundheitlich schwer angeschlagen. So schwer, dass er das Haus nicht mehr verlassen konnte. Also richtete Adam ein kleines Tonstudio im Haus ein, damit sein Vater weiterhin an Songs arbeiten konnte.

Knapp ein halbes Jahr vor Cohen starb seine langjährige Muse Marianne Ihlen, der er Ende der 60er den Song „So long, Marianne“ gewidmet hatte. Parallelen zu den letzten Monaten im Leben von Johnny Cash sind da durchaus gegeben. Auch er verlor ein halbes Jahr vor seinem eigenen Tod seine langjährige Begleiterin June Carter, die nicht nur seine Frau war, sondern seine Lebensretterin, ohne die Cash wohl schon viele Jahre früher gegangen wäre. Marianne und June waren die Anker im Leben von Leonard und Johnny und ohne sie hielt es auch die beiden nicht mehr hier. In einem Brief, den Cohen kurz vor Mariannes Tod an sie schrieb, nachdem er von ihrer unheilbaren Krankheit erfuhr, meinte er, dass er ihr bald folgen würde. Und er sprach von „You Want It Darker“ als seinem letzten Album. Er sollte mit beidem recht behalten.

Cohen war ein Poet, der eigentlich kein Musiker werden wollte. Viele sprachen sich auch für Cohen als Empfänger des Nobelpreises für Literatur aus, nachdem Bob Dylan diese Ehre zuteil wurde. Manche mögen Cohen nicht, weil er ihnen zu melancholisch und depressiv ist. Und tatsächlich bewegen sich die meisten Songs von Cohen eher im gemäßigten Tempo, wobei Titel wie „First we take Manhattan“ und „The Future“ die Ausnahmen von der Regel sind. Dazu kommen seine lyrischen Texte, die oft von Liebe, Verlust und Glauben handeln. Dabei war Cohen kein religiöser Mensch im eigentlichen Sinne. Er war ein spiritueller Mensch. Aufgewachsen und erzogen im jüdischen Glauben, fühlte sich Cohen später eher dem Buddhismus zugehörig. In den 90er Jahren zog er sich auch für mehrere Jahre in ein buddhistisches Kloster zurück.

Der Titelsong seines letzten Albums ist schon toll, aber ganz unbemerkt fast schlich sich ein anderer Titel bei mir ein. Der Song „Treaty“ ist das zweite Stück auf dem Album. Wie oft bei Cohen ist es Gebet und Liebeslied in einem. „Treaty“ bedeutet so viel wie „Abkommen“ oder „Übereinkunft“. Und wenn man die ganzen biblischen Anspielungen im Text dazu nimmt, wie das Verwandeln von Wasser in Wein oder die Schlange, könnte man zu der Überzeugung gelangen, der Text sei eine Art Zwiegespräch zwischen Cohen und Gott. Auf eine gewisse Weise ist er das vielleicht auch, aber im Grunde geht es doch um die Liebe zu einer Frau.

Die Textzeile, die nach dem dritten oder vierten Hören bei mir eingesickert ist, ist „I wish there was a treaty between your love and mine“, also „Ich wünschte, es gäbe eine Übereinkunft zwischen deiner Liebe und meiner“. Im Verbund mit der Musik, dem restlichen Text und der Art, wie Cohen den Text interpretiert, berührten mich diese Worte tief im Inneren. Es ist wie Wunsch und Entschuldigung zugleich.

Der Text beginnt mit einem biblischen Motiv:

I’ve seen you change the water into wine
I’ve seen you change it back to water, too
I sit at your table every night
I try but I just don’t get high with you

Wenn man nun davon ausgeht, dass Cohen diese Worte an eine Frau richtet, dann zeichnet er bereits hier ein Bild einer Beziehung, die nicht oder nicht mehr funktioniert. Er hat sie Wasser in Wein verwandeln sehen, also aus etwas „Normalem“ hat sie etwas Besseres gemacht. Aber er hat auch gesehen, wie sie etwas Besseres wieder „normal“ gemacht hat, als sie den Wein wieder in Wasser verwandelt hat. Das könnte auf Cohen selbst bezogen sein oder jeden Menschen, der sich verliebt. Zuerst wird man verändert durch die Liebe, von einem „normalen“ Menschen zu einem verliebten Menschen und später, wenn die Liebe abkühlt, ist es umgekehrt. Er sitzt jeden Abend an ihrem Tisch und versucht, zu ihr durchzudringen, aber es gelingt ihm nicht. Obwohl sie miteinander vertraut sind, sind sie doch weit voneinander entfernt.

I wish there was a treaty we could sign
I do not care who takes this bloody hill
I’m angry and I’m tired all the time
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine

Er wünscht sich also eine Art Abkommen, welches beide unterzeichnen könnten. Der „blutige Hügel“ könnte wieder eine biblische Anspielung sein, also der Berg, auf dem Jesus gekreuzigt wurde. Es könnte auch einfach eine Art Resignation sein, dass es ihm egal ist, wer Recht hat und wer nicht. Und dann wiederholt er die Worte, dass er sich wünschte, es gäbe eine Übereinkunft zwischen seiner Liebe und der Liebe seines Gegenübers.

Ah, they’re dancing in the street, it’s jubilee
We sold ourselves for love, but now we’re free
I’m so sorry for that ghost I made you be
Only one of us was real and that was me

Mit „jubilee“ dürfte das christliche Jubeljahr gemeint sein, es gibt auch eine Entsprechung im jüdischen Glauben. Im Jubeljahr oder auch Ablassjahr wurde dem Volk praktisch ein Schuldenerlass gewährt, es wurde auch von den Sünden freigesprochen. Dazu passt dann auch die folgende Zeile, in der Cohen singt, dass sie sich für die Liebe verkauft haben, aber jetzt frei sind. Er ist also kein Sklave der Liebe mehr und hat sich von den Fesseln befreit. In der nächsten Zeile entschuldigt sich Cohen dann dafür, dass er aus seinem Gegenüber eine Art Geist gemacht hat und erkennt, dass nur einer von beiden real war, nämlich er selbst. Das könnte soviel bedeuten wie eine selektive Erinnerung, in der man sich nur an die guten Dinge erinnert und die schlechten ausblendet. Aber zur Liebe gehören nun mal beide Seiten.

I haven’t said a word since you been gone
That any liar couldn’t say as well
I just can’t believe the static coming on
You were my ground, my safe and sound
You were my aerial

Die erste Zeile hat eine andere Bedeutung, wenn man die folgende Zeile nicht dazu nimmt. Es ist also nicht so, dass er kein Wort mehr gesprochen hat, seit sein Gegenüber fort ist, sondern er hat seitdem kein Wort gesagt, welches nicht auch ein Lügner genauso gut hätte sagen können. Sprich, die Worte, die er sagte und auch so meinte, waren nicht stark oder überzeugend genug, um wieder eine Verbindung zu seinem Gegenüber aufzubauen. Die folgenden Zeilen sind eine Metapher für eine Verbindung zu einem höheren Wesen oder zur eigenen Spiritualität. Er kann nicht glauben, dass die „static“, also die statischen Geräusche, nun zu hören sind. Die Verbindung ist ohne sie unterbrochen, sie war seine „Erdung“, sie war seine Antenne („aerial“), wobei „aerial“ natürlich auch im doppelten Sinn der Engel Ariel sein kann, also ein himmlisches Wesen. Danach wiederholt sich quasi der Refrain.

Ah, the fields are crying out, it’s jubilee
We sold ourselves for love but now we’re free
I’m so sorry for that ghost I made you be
Only one of us was real and that was me

Die erste Zeile ist allerdings verändert. Nun wird nicht mehr in den Straßen getanzt wegen der Befreiung, sondern die Felder schreien es hinaus, es ist nun also weniger eine Befreiung in Liebe, sondern eine Befreiung von der Liebe, also im Grunde der Verlust der Liebe. Mit den Feldern dürfte wieder das Jubeljahr gemeint sein, da man in diesem Jahr die Felder nicht beackern durfte.

I heard the snake was baffled by his sin
He shed his scales to find the snake within
But born again is born without a skin
The poison enters into everything

Die Schlange ist natürlich wieder eine biblische Anspielung. In der Bibel gibt es auch einen Dialog zwischen der Schlange und Eva im Garten Eden. Als die Schlange Eva dazu verführen will, die verbotene Frucht zu kosten, entgegnet Eva, dass Gott ihnen verboten hat, diese Frucht zu essen, da sie sonst sterben werden. Die Schlange antwortet, dass sie nicht sterben werden, sondern wie Gott werden würden und alles Gute und Schlechte erkennen. Cohen verbindet das mit dem Erkennen von Liebe (Gut) und dem Schmerz des Verlustes (Schlecht). Die Schlange, also er, war verblüfft von den eigenen Sünden. Er hat seine Schuppen abgelegt, um die Schlange darunter zu finden, also sich von dem Schmerz und seinen Sünden zu befreien. Er hat gehofft, sich durch diese Häutung von all dem befreien zu können. Aber er wird wiedergeboren ohne neue Haut, in die das Gift auch weiterhin eindringen kann. Er versucht also, sich von seinen Sünden und dem Schmerz zu befreien, aber beides wird immer ein Teil von ihm bleiben.

Zum Schluß wiederholt Cohen seinen Wunsch nach einem Abkommen zwischen seiner Liebe und der Liebe seines Gegenübers.

And I wish there was a treaty we could sign
I do not care who takes this bloody hill
I’m angry and I’m tired all the time
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine

Der Song ist also gleichzeitig eine Bitte um Vergebung, sowie der Wunsch nach einem Neuanfang. Und die Zeilen

I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine

drücken das auf sehr berührende Weise aus, wie ich finde.

Und hier noch das Titelstück seiner letzten Platte:

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